Manchmal ist es sicher schwer, die richtige Entscheidung zu treffen. So fühle ich auch mit Señor Enano.
Tahmid hätte eigentlich die null Punkte im Zeugnis verdient. Er kommt kaum und wenn er mal da ist, bemüht er sich nicht einmal, mitzuarbeiten.
Und dann ist da die Sache mit der Klausur…
Tahmid hat die Klausur nachgeschrieben (wie er alle Klausuren nachschreibt – absichtlich. Denn bei Señor Enano brauchen wir kein Attest, um bei einer Klausur zu fehlen. Señor Enano ist da schwer in Ordnung.). Tahmid schreibt nach, weil er dabei alleine ist und sein Smartphone benutzen kann, um die Klausur zu bearbeiten. Eigentlich wäre das ja nicht nötig, wenn er mal dem Unterricht beiwohnen würde… Aber sei’s drum.
Bei Señor Enano ist die Nachschreibeklausur eigentlich immer genau dieselbe Klausur, die auch die anderen Schüler am regulären Termin geschrieben haben. Und zumeist benutzt er irgendwelche Dinge, die wir im Unterricht besprochen haben, sodass es kein Hexenwerk ist, das inhaltlich hinzubekommen. Zudem gibt er meistens auch Hinweise, was drankommen wird. In diesem Fall das siebte Kapitel unserer Lektüre.
Da ich das vorbereiten sollte und auch vorgetragen habe, hatte ich davon eine Zusammenfassung, die ich auch schon abgetippt hatte, weil Ilvy, die krank gewesen ist, mich darum gebeten hatte, dass ich ihr das schicke und ich es für besser hielt, es abzutippen, als es einfach einzuscannen. Das ist so einfach lesbarer und ich kann eventuelle Fehler (also zumindest die, die mir auffallen) ausbügeln.
Diese Zusammenfassung (und eine Charakterisation einer Figur aus diesem Kapitel) habe ich also Tahmid geschickt, weil ich wollte, dass er sich auf die Klausur vorbereiten kann. Weil ich wollte, dass er eine anständige Note hinbekommt, weil er ja zwei Halbjahre Spanisch ins Abi einbringen muss.
Fakt ist, dass ich ihm damit quasi die Lösung zweier Aufgaben aus der Klausur geliefert habe. Auf relativ hohem Niveau.
Was macht Tahmid also, der Arbeit zu gerne mal scheut?
Er druckt sich das aus und nimmt es mit zur Klausur. Den Text schreibt er komplett so ab.
…
Dass das nicht unbemerkt bleiben konnte, war offensichtlich. Denn Tahmid bringt im Unterricht keinen einzigen spanischen Satz zustande und dümpelt im Unterkursbereich umher. Und plötzlich soll er so einen Text verfasst haben? Unglaubwürdig…
Das führte dazu, dass Señor Enano, als er uns am Montag die Klausuren austeilte, ihm seine nicht wiedergab. Stattdessen forderte er Tahmid auf, sich in’s Vorzimmer unseres Raumes zu setzen und seine Klausur zum Großteil ins Deutsche zu übersetzen. Ein Ding der Unmöglichkeit für ihn. Er versuchte es dennoch, mehr oder minder erfolgreich und wieder mit Einsatz elektronischer Hilfsmittel.
Ich hatte das schlechte Gewissen wohl ins Gesicht geschrieben, denn so fühlte ich mich. Verantwortlich dafür, was passiert war, denn ich wusste sofort, worum es ging.
Heute war Tahmid (wie zu erwarten war…) nicht anwesend und Señor Enano wandte sich an mich und meinte, dass ich Tahmid ja ausrichten könnte, dass es eine Doppelnull geworden sei (wobei er am Montag sagte, dass es, hätte er’s gewertet, wohl elf oder zwölf Punkte geworden seien).
Nach dem Unterricht sprachen wir noch weiter und er fragte mich, wie es denn um Tahmids Abi stünde, woraufhin ich meinte, dass ihm null Punkte das Genick brechen würden. Denn null Punkte bedeutet Kursaberkennung – eigentlich zu verschmerzen, doch Tahmid MUSS diesen Kurs belegt haben. Dementsprechend zöge das die Nichtzulassung zum Abitur nach sich.
Señor Enano meinte, Tahmid hätte durchaus null Punkte verdient, doch er würde ihm, wenn die Dinge so seien, einen Punkt geben.
Ein Mitleidspunkt. Der Tahmids Abitur rettet.
Dann sagte er auch noch: „Wenn man so blöd ist und das so auffällig macht wie Tahmid, dann hat man allein dafür schon null Punkte verdient…“
Dem kann ich nur beipflichten…